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Kontexte von Schriftlichkeit

Schriftliche Kommunikation spielte im prähispanischen Mesoamerika in verschiedenen Zusammenhängen eine Rolle. Schrift stand dabei durchwegs – wie auch in anderen feudalen Gesellschaften und auch im Europa der frühen Neuzeit – im Zeichen von Herrschaft und Verwaltung. Zu den aus Codices oder frühkolonialen Berichten bekannten Aufgaben und Einsatzgebieten von Schrift gehörten:

  • Archiv: Bilderhandschriften fungierten gemeinsam mit der mündlichen Überlieferung, den so genannten huehuetlatolli, als kollektives Gedächtnis. Die Geschichtsschreibung erfolgte aus der Perspektive des jeweiligen Stadtstaats und war von tagespolitischen Interessen motiviert, wie aus dem Vergleich der Chroniken konkurrierender Stadtstaaten oder auch der Verbrennung missliebiger Annalen unter dem aztekischen Herrscher Itzcoatl ersichtlich wird.

  • Fernkommunikation: Der aztekische Dreibund betrieb ein Kommunikationsnetz mit Botenläufern, die schriftliche Nachrichten rasch über größere Distanzen überbringen konnten.  Für den reibungslosen Ablauf des Botennetzes war ein hoher Beamter verantwortlich, der so genannte titlancalqui tecuhtli (titlantli – Bote und tecuhtli = Herr).

  • Militärwesen: Die Mexica unterhielten einen „Nachrichtendienst“ zur Aufklärung und Erkundung. Die dabei eingesetzten Militärkundschafter verfassten ihre Berichte im tlacuilolli-Zeichensystem.

  • Handel: Die aztekischen Fernkaufleute (Pochteca) dürften eine Art Handelsbuch (tlapoalamoxtli, von tlapoa = zählen, rechnen) verwendet haben, von denen allerdings kein Belegexemplar erhalten ist. Der kastilische Hofchronist Petrus Mártir berichtet überdies von löschbaren Schreibblöcken, die Kaufleute für temporäre Aufzeichnungen benutzten. Für diese prähispanische Version des Wunderblocks fehlen allerdings Belege in anderen Quellen oder durch archäologische Funde.

  • Tributlisten: Die Tributlieferungen, die abhängige Stadtstaaten dem Freibund zu zahlen hatten, wurden ebenfalls schriftlich festgehalten.

  • Grundgrenzen: Fernando de Alva Cortés Ixtlilxochitl zufolge wurde auch der Grundbesitz schriftlich festgehalten. Unklar ist, inwieweit diesen Dokumenten eine Beglaubigungsfunktion zukam, sie also als Urkunden ähnlich der europäischen Rechtstradition fungierten oder ob sie nur in Verbindung mit glaubwürdigen Zeugen Geltung erlangten.

  • Religiöser Kontext: Der in ganz Mesoamerika verbreitete Ritualkalender wurde für zahlreiche Entscheidungen, sowohl der Staatspolitik als auch des Alltags, konsultiert. Für die Interpretation des schriftlich tradierten Kalenders (tonalamatl) waren eigene Spezialisten (tonalpouhque) zuständig.
Mesoamerikanistik-Arbeitskreis
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